Beschimpfung auf der Straße = Meckerei in einer Kommentarspalte

Gerne bringe ich in Zusammenhang mit der Digitalisierung unserer Gesellschaft das Argument, daß die Menschen trotz des häufig sehr unerfreulichen Eindrucks, den man von Kommentarspalten und Foren erhalten kann, insgesamt keineswegs roher oder gar gewalttätiger geworden sind – wir leben in extrem friedlichen Zeiten – und daß deshalb die Äußerungen in digitalen Communities allerhöchstens so zu verstehen seien wie die Schimpftirade des Radfahrers, wenn ihm ein Autofahrer bedrohlich nah kommt. Oder anders gesagt: Menschen werden durch Digitalisierung nicht unfriedlicher (auch nicht durch Anonymität oder Pseudonymität), sondern ihre Äußerungen bekommen lediglich eine andere bzw. zusätzliche Form (digital-persistent statt analog-flüchtig).

Nun wird genau diese Argumentation bei einem recht spektakulären Gerichtsverfahren in Großbritannien eingesetzt:

“”Zu seiner Verteidigung bringt Chambers vor, ihm sei es gegangen wie an einem schlechten Arbeitstag, an dem man sagt, man könnte seinen Boss umbringen. “Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass das jemand ernst nehmen könnte”, sagte Chambers der Zeitung zufolge.””

(Quelle: ZEIT ONLINE)

Mal sehen, ob das Berufungsgericht ihm folgen wird (beim ersten Mal hat es nicht geklappt). Ich halte die Argumentation jedenfalls nicht für unplausibel und zwar nicht nur aufgrund der bekannten Volksweisheit, daß ein Mord in Gedanken den Psychiater erspart (und keineswegs automatisch eine reale Tat nach sich zieht, also den Psychiater nicht bloß durch den Haftrichter ersetzt), sondern vor allem weil auch hier eben nicht so ohne weiteres analoge Maßstäbe an digitale Phänomene angelegt werden können. Unplausibel ist meiner Überzeugung nach eher die Sichtweise der Richterin:

“Die Richterin begründet ihre Entscheidung laut Guardian mit den Worten: Die Nachricht sei “bedrohlich in ihrem Inhalt” gewesen. “Es hätte nicht klarer sein können. Jeder normale Mensch, der das liest, hätte das so verstanden und wäre beunruhigt.””

(a.a.O.)

Vielleicht jeder, der wenig bis gar keine Ahnung von digitaler Kommunikation hat …