PRISM hilft den Piraten nicht? Natürlich nicht!

Warum sollte es auch? Es ändert ja an ihrem Kernproblem, dem Nerdismus, nichts. Und dieser läßt sich leicht erklären: Nach der Überzeugung nicht weniger Kolleginnen und Kollegen verhält es sich mit dem Nerdismus wie mit jedem anderen führenden Teilsystem einer Lebenswelt: wenn dieses Teilsystem inhaltlich die Lebenswelt dominiert, “färbt” es früher oder später mehr oder weniger stark auf andere Teilsysteme ab. Zu beobachten ist dies gesellschaftlich sehr gut am Beispiel der Ökonomie. Auch der Prozeß der Ökonomisierung durchdringt alle anderen Lebensbereiche – mit den teilweise weithin sichtbaren und wohlbekannten Folgen, beispielsweise an den Universitäten (Stichworte hier: Zeitverträge, halbe Stellen, Drittmittelakquise, …) Der linke Emeritus Elmar Altvater widmet sich seit langer Zeit der Globalisierung. Seine Definition der Ökonomisierung als “Unterwerfung sozialer, politischer und natürlicher Verhältnisse unter das ökonomische Prinzip” (siehe dieses Exzerpt) erscheint hier entsprechend passend. Bei der Nerdisierung einer individuellen Lebenswelt scheint dies ähnlich abzulaufen: der Dreh- und Angelpunkt des Lebens, das Nerd-Sein, beeinflußt alle anderen Lebensbereiche – mal positiv, mal negativ. Im sozialen Sinne, so meine Einschätzung, hat dies meist negative Folgen.

Das ist letztlich kaum überraschend, denn nehmen wir einfach mal das keineswegs unrealistische Beispiel eines SAP-Angestellten: Programmierer, 100.000 EUR brutto pro Jahr, gefeiert für seine Erfolge mit seinem Team, weltweit gefragt, absolut sicherer Job und glänzende Zukunftsaussichten. Dank SAP-Job ein Einfamilienhaus im Grünen, zwei Autos, glückliche Familie. Ist dann nicht automatisch alles in Butter? Beruflich: sieht so aus. Sozial (wenn man es mit “beruflich” koppelt oder gar gleichsetzt): sieht ebenfalls so aus. Insgesamt: Natürlich nicht. Denn ähnlich dachten früher auch Väter, die zwar ihre Kinder verprügelten, aber letztlich für einen vollen Kühlschrank sorgten. “Das Kind ist gesund, satt und geht zur Schule – ist doch alles okay, oder?” “Mir haben die Prügel schließlich auch nicht geschadet, ist ja auch was aus mir geworden” usw. usf. – die Floskeln dürften hinlänglich bekannt sein.

Zugegeben, das ist ein drastisches Beispiel. Aber es soll der unzweideutigen Illustration dienen und klarmachen: ein voller Kühlschrank und ein Dach über dem Kopf sind eben nicht alles. Schon ein in Mitleidenschaft gezogenes Teilsystem kann die Erfolge in allen anderen Bereichen trüben – oder umgekehrt: ein besonders erfolgreiches Teilsystem reicht eben nicht aus, um alle anderen automatisch ausreichend positiv zu beeinflussen. Der Volksmund würde dazu wohl beispielhaft sagen: Liebe kann man nicht kaufen. Viele beruflich außerordentlich erfolgreiche Väter und Mütter kennen diesen Satz wohl sehr gut.

Das ist in Bezug auf Piraten alles Unsinn? Die Nerds geben gar nicht den Ton an bei den Piraten, da gibt es ausreichend viele Alternativkräfte? Abgesehen davon, daß ich das stark bezweifeln würde: das sehen die (in diesem Falle extrem wichtigen) Medien ebenfalls anders. Dazu SPIEGEL ONLINE:

“Doch die Piraten wissen selbst nicht, wer sie sein wollen. Sind sie die Spaßpartei, die an Flughäfen Flashmobs organisiert, um einen imaginären Snowden vom Gate abzuholen? Oder sind sie die Neoseriösen, die in gestanztem Polit-Sprech offene Briefe an Angela Merkel schreiben? Ein beunruhigend großer Teil scheint zudem lieber einem Club der Verschwörungstheoretiker angehören zu wollen. In einigen Statements liest sich das Weltbild von Piraten so simpel wie unreflektiert: Snowden ist ein Held. Die Bundesregierung lügt. Geheimdienste sind böse. Eine pure Anti-Haltung wird nicht reichen, um eine Wahl zu gewinnen. Auch mögen die Piraten mehr netzaffine Leute vereinen als alle anderen Parteien zusammen. Doch “das Internet” haben sie damit nicht gepachtet. Die Netzszene beäugt die Partei schon länger skeptisch. Und wirklich überzeugende Argumente, warum die Piraten von innerer Sicherheit und dem Geflecht von Geheimdiensten mehr Ahnung haben sollen als Grüne, SPD oder FDP hat die Partei bislang nicht geliefert.”

(Quelle: spiegel.de; hervorgehoben sind die Nerd-Komponenten)

Dagegen könnte man einwenden, daß dies nur Einzelstimmen seien, die Wirklichkeit (aus Piraten-Sicht) anders aussieht usw. usf. – nur sieht die Wirklichkeit (d.h. die Welt nicht nur aus Piraten-Sicht) eben nicht anders aus, denn sie ist stark mediengeprägt und die Medienanalyse, die ich betreibe, kommt zu keinem anderen Ergebnis. Wenn die Medien dieses Bild immer und immer wieder vermitteln und es nicht auf fixen Ideen, sondern auf plausiblen Beobachtungen besteht, handelt es sich wohl nicht um eine Kampagne gegen die Piraten, sondern um legitime Zustandsbeschreibungen, die wiederum das Bild in der Öffentlichkeit entsprechend prägen.

Es geht hier nicht darum, die Piraten kleinzuschreiben. Darum geht es nie. Ich wäre der Letzte, der Verbesserungen des Verhältnisses Mensch – Digitalisierung kritisieren würde, denn ich fordere sie ja gerade von der politischen Ebene ständig. Wenn die Piraten dazu beitragen könnten: wunderbar. Aber die Piraten tragen einfach zu wenig dazu bei. Die Nerdkultur ist kein Vorbild für die Menschen, an dem sie sich orientieren möchten. Man kann dies allein schon an den Wahlergebnissen der jüngeren Vergangenheit sowie den aktuellen Prognosen für die Bundestagswahl gut erkennen: Nerdchaos wird abgestraft. Allein die vielen Streitereien sind nicht nur Zeichen mangelnder Sozialkompetenz, sondern tragen auch nahezu nichts zur Lösung von drängenden sozio-technischen Problemen bei. Es geht letztlich immer wieder nur um die eigene Nerdkultur, auf die sich viele Piraten gern zurückziehen:

“Popcorn! rufen dann Piraten-Anhänger im Netz und freuen sich über ihren eigenen Unterhaltungswert. Man würde meinen, die Piraten haben aus ihren zahlreichen öffentlich ausgetragenen Peinlichkeiten Lehren gezogen. Das haben sie nicht.

Es interessiert nur kaum noch jemanden.”

(a.a.O.)

Und das ist – da wiederhole ich mich ebenfalls gern – schade.