Nerd- statt Volksvertreter: ein enttäuschendes erstes Parlamentsjahr der Berliner Piratenpartei
Aus meiner Sicht, der Sicht des Soziologen, der sich mit der Analyse von Digitalisierung und Gesellschaft auseinandersetzt, kann ich nur ein Fazit nach einem Jahr Piratenpolitik im Berliner Abgeordnetenhaus ziehen: es ist eine Enttäuschung. In Erinnerung bleibt einzig der rote Faden der Nerdkultur, der in einer Sackgasse mündet.
Das heißt nicht, daß es so bleiben muß. Den größten Teil ihrer Parlamentszeit haben die Piraten schließlich noch vor sich – und lernresistent sollten sie auch nicht sein, denn grundsätzlich sind es ja schlaue Köpfe, die ins Parlament gewählt worden sind. Und andere Parteien – erinnert sei an dieser Stelle nur an Gerhard Schröders SPD ab 1998 – brauchten ebenfalls durchaus etliche Monate, bevor sie vernünftig zu wirken begannen. Dinge mußten sich dort erst einspielen, vor allem nach 16jähriger CDU-Dominanz auf Bundesebene.
Doch bei den Piraten kann sich die derzeitige Art der Netzpolitik nicht einspielen, denn das Problem an den Piraten ist meines Erachtens, daß sie eigentlich nichts anderes als Nerdpolitik machen, keine Netzpolitik. Und das kann nur in die Hose gehen. Es geht also nicht ums Können, sondern ums Wollen.
Doch diese Form der politischen Arbeit ist genauso zum Scheitern verurteilt wie viele andere Politikstile, die das Individuum und seine Wünsche in den Vordergrund stellen und nicht das Querschnittsthema und damit die Allgemeinheit. Die anderen Parteien haben kaum Ahnung von sinnvoller Netzpolitik (oder verbergen diese zumindest sehr gut, weil sie sie zum Beispiel kaum interessiert)? Wunderbar, warum nicht hier ansetzen? Warum vertreten die Nerds nicht die Interessen aller Menschen, die von Digitalisierung betroffen sind? Warum vertreten sie stattdessen lieber Individualideen, Nerdideen, die das “Ich” in den Vordergrund stellen und nicht die Digitalisierung der Gesellschaft? (Daß sie dies tun, läßt sich u.a. wunderbar an den Themen erkennen, die sie in den vergangenen Monaten bearbeitet haben, denn diese haben allesamt sehr viel mit der Nerdkultur zu tun und wenig mit den Veränderungen, die die Gesamtgesellschaft betreffen.)
Man sagt, die FDP war ursprünglich liberal, die CDU konservativ, die Grünen ökologisch? Okay. Aber warum sind die Piraten dann nicht digital? Digital im Sinne einer Querschnittsaufgabe, im Sinne eines Markenkerns, nicht im Sinne einer Subkultur. Die Piraten vertreten Nerdinteressen und damit Klientelpolitik. Gleichzeitig werfen sie aber anderen Parteien vor, daß diese Arbeitgeber-, Unternehmer- oder Rüstungsinteressen unterstützen – machen es aber ganz offensichtlich genauso.
Freilich: sie sind nicht allein mit dieser Haltung, Klientelpolitik ist ja nichts Neues. Wenn die Piraten etwas retten wollen, dann müssen sie jedoch weg vom Individuum und hin zur Querschnittsaufgabe. So wie die Grünen “Öko” hoffähig gemacht haben. Das gelingt nicht immer und erst recht nicht immer auf Anhieb? Politische Ziele sind manchmal bis zur Unkenntlichkeit verwaschen, diffus? Mag sein. Aber normalerweise endet ein politischer Entwicklungsprozeß in diesem Stadium, er beginnt nicht dort. Idealerweise starten Politiker nicht nur wort-, sondern auch tatenreich mit Idealen, die der Allgemeinheit dienen sollen. Die Piraten haben dies jedoch offenbar gar nicht erst versucht, sie haben sich stattdessen direkt in die Nerd-Sackgasse begeben und verharren seitdem dort.
Damit haben die (Berliner) Piraten eindrucksvoll gezeigt, daß dort, wo andere inzwischen trübe und abgenutzt durch den Politbetrieb treiben, nicht immer das Ziel einer Fehlentwicklung ist, sondern manchmal eben auch der Beginn. Sie müssen gar nicht mehr werden, wie die, die sie kritisieren – sie sind bereits jetzt so. Das ist skurril, aber auch die Anhänger der Piraten bestätigen dieses Bild immer wieder gern: desöfteren liest man in den Diskursen über die (Miß)Erfolge der Piraten die Aussage, daß die anderen Parteien und Politiker ja eh am Boden liegen würden und deshalb können die Piraten ja nicht schaden, schließlich könne es nur besser werden. So eine Einstellung ist nicht nur verblüffend, weil sie jeglichen Anspruch an (politische) Gestaltung bereits im Vorfeld ausschließt und den Nullpunkt bereits als Erfolg verbucht, wenn er nur ein anderer Nullpunkt ist als der der anderen Parteien. Diese Einstellung ist auch deshalb spannend, weil damit in der Tat nur von Protestpotenzial gesprochen werden kann, welches die Piraten in die Landtage gespült hat – Inhalte sind letztlich ja völlig unwichtig, sollten sie überhaupt erkennbar sein. Und noch viel verblüffender wäre es, wenn man es als Partei schaffen sollte, zur kommenden Bundestagswahl selbst dieses völlig anspruchslose Protestwahlvolk, welches einem als Partei maximalen Freiraum einräumt, solange man nur anders ist, noch zu verprellen.
Digitalisierung wird über viele Jahre und Jahrzehnte ein Thema bleiben, welches jeden Menschen in diesem Land betrifft. Wir erleben eine digitale Revolution, nichts anderes! Eine Revolution, die sich zum Beispiel dadurch auszeichnet, daß wir seit einigen Jahren weg von einem Netz der Protokolle (WWW, FTP, IRC, …) und hin zu einem Netz der Konzerne (Google, Twitter, Facebook, …) gehen. Trotz dieser sehr technischen Aspekte ist die digitale Revolution aber eben keine Nerdangelegenheit, sondern etwas für die und inzwischen auch zunehmend ausgehend von der breiten Masse. Diese Revolution zeichnet sich eben nicht prioritär dadurch aus, daß plötzlich LAN-Partys möglich sind, neue Programmiersprachen entstehen oder Coder im Beruf viel Geld verdienen können. Das sind und bleiben Nischenthemen. Daß Menschen digital videoüberwacht, bei der Einreise kontrolliert, zum Geldabheben an den Automaten geschickt und von Google über den Informationsfundus dieser Welt und vieles mehr entscheidend “aufgeklärt” werden, das sind die Netzthemen, die die Welt bewegen!
Wie damit in der deutschen Politik – parteiübergreifend im Übrigen – umgegangen wird? Aus sozialwissenschaftlicher Sicht, d.h. wenn wir diese massiven Veränderungen unserer Gesellschaft analysieren, gestalten und nicht nur ertragen wollen: kaum bis gar nicht. Digitaler Radiergummi, Medienaktionen gegen Google Street View (und keine gegen Microsoft StreetSide), Diskussionen über Realnamenpflicht … die Liste des Unsinns ist lang, vielfältig, schier unerschöpflich. Die Piraten stoßen nun nicht in die Lücke und bieten sich hier als progressive Kraft an, sondern widmen sich vorrangig Nerdthemen und der Nerdperspektive – und ergänzen damit die Liste des Unsinns um etliche Posten. Und das ist nun mal äußerst enttäuschend.
Sie kultivieren Shitstorms, pflegen den internen Zwist, verschleißen Personal, sind eingeschnappt, wenn der Oppositionsbetrieb hart und mühsam ist, sprich: etablieren den Nerd im Politikbetrieb. Der Vergleich mit den spielenden Kindern, die von ihrem Spielzeug enttäuscht sind, drängt sich da tatsächlich nicht selten auf. (Der vielleicht etwas platt erscheinende, aber sozialisatorisch nicht völlig abwegige Vergleich mit neugierigen, aber irgendwie auch enttäuschten Kindern taucht auch in der insgesamt empfehlenswerten ZDF-Doku zum Parlamentsjubiläum der Berliner Piraten auf. Dort ist mehrfach und deutlich der dominante Nerdstil zu erkennen, von dem hier die Rede ist.) “Opposition ist Mist”, sagte einst Franz Müntefering. Die Rolle einer Winzpartei im Berliner Oppositionsbetrieb ist nicht die Kanzlerschaft, das kann man aber alles vorher nachlesen, in Erfahrung bringen, sich darauf einstellen. Offen, umfassend, geduldig. Man kann daran wachsen – 100 Tage sind üblicherweise jedem Politiker problemlos vergönnt – auch denen, deren Partei beim Einzug in ein Parlament bereits mehrere Jahre besteht. Hier sind es inzwischen 365 Tage – und die Wirkung ist aus meiner Sicht leider enttäuschend. Eigengesetzlichkeiten anzuprangern, bevor man überhaupt angefangen hat, klassische politische Arbeit jenseits der bereits erwähnten Klientelpolitik zu betreiben, ist da schon ein starkes Stück.
Pirat Martin Delius formuliert es in der ZDF-Doku so: wenn die Piraten sich selbst aneinander reiben, sind sie offensichtlich ziellos. So, wie sie momentan daherkommen, scheint ihnen jedes sinnvolle Ziel wohl längst abhanden gekommen zu sein. Hier ist ein, wenn nicht gar das Ziel schlechthin: Digitalisierung und Gesellschaft. Die Gesellschaft braucht in diesen Zeiten Digitalisierungsgestalter in allen gesellschaftlichen Teilbereichen sicher dringender als Nerds, die mal in Anti-Drogen-Politik, das Flughafen-Desaster oder den Verkehrsausschuß hineinschnuppern. Deshalb kann meine Empfehlung nur sein: die Piraten sollten die Nerdhaltung in die Mottenkiste packen und endlich mit der Themenarbeit beginnen. Sie sollten umgehend für Menschen kämpfen, die die digitale Steuererklärung, den neuen Personalausweis und den digitalen Reisepaß nicht verstehen. Sie sollten für Angehörige da sein, deren Oma in ihrer Wohnung mit Kameras und Sturzmatten ausgerüstet wird, die aber nicht einmal ansatzweise Ahnung davon hat, was das für sie bedeutet. Sie sollten schlicht die politische Anlaufstelle für Digitalisierungs- und nicht die für Nerdfragen werden und damit den Vertretungsanspruch erfüllen, den Volksvertreter nun einmal haben. Sie sollten dringend für Ausgleich sorgen, sprich: dabei helfen, daß jede Userin und jeden User befähigt wird, Digitalisierung zu gestalten. Sie sollten ein positives Klima für eine gemeinsame und ganzheitliche Gestaltung von Digitalisierung fördern und damit die Demokratie, das Land, den Kontinent stärken. Sie sollten endlich Volksvertreter werden und nicht länger Nerdvertreter sein! Die bisherige Nerdpolitik geht zu Lasten der Allgemeinheit und hat mit Volksvertretung wenig bis gar nichts zu tun, denn sie hemmt die dringend notwendigen Entwicklungen in Berlin und Deutschland ganz massiv. Es gibt in meinen Augen eigentlich nichts, was der Gesellschaft in punkto Digitalisierungsherausforderungen in diesem vergangenen Jahr aufgrund der Arbeit der Piraten geholfen hat.
Auch wenn der Durchschnittsnerd es vielleicht kaum glauben mag: die Masse der Durchschnittsbürger twittert nicht. Von LAN-Party-Besuchen und intensiven Engagements bei Liquid Feedback einmal ganz zu schweigen. (Letzteres nutzen ja selbst die Piraten kaum.) Der Durchschnittsbürger hat ganz andere Sorgen in Hinblick auf Digitalisierung. Solange diese Sorgen nicht zielführend und inhaltlich sinnvoll angegangen werden, werden die Piraten aus meiner Sicht weiter enttäuschen. Und aus dieser Perspektive haben sie es auch nicht verdient, in den Bundestag einziehen zu dürfen. Ganz einfach.
Aber trotzdem sehr schade.
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